Der Friedhof der Kirche Wang
Mit der Wiedererrichtung der Kirche Wang im Riesengebirge wurde auch ein Bergfriedhof neben der Kirche angelegt. Dieser Friedhof war ursprünglich der Gemeindefriedhof der neu geschaffenen Kirchengemeinde Brückenberg, zu der die Orte Brückenberg, Neuhäuser, Ober-Querseiffen und die oberhalb von Krummhübel und Brückenberg gelegenen Teile des Riesengebirges gehörten.
Am 9. August 1844, also 12 Tage nach der Kirche, wurde der Friedhof eingeweiht. Wenn er auch nur für etwas mehr als einhundert Jahre genutzt wurde, so schlägt sich doch in dieser relativ kurzen Zeit die Geschichte der Region auf eindrückliche Weise in den Geschichten der hier begrabenen Menschen nieder. Friedhöfe erinnern immer auch an die Menschen, die auf ihnen begraben wurden und an deren Leben. Das Leben der Wang-Gemeindeglieder war vom Gebirge bestimmt. Das spiegelt sich nicht zuletzt in den Eintragungen im Kirchenbuch der Gemeinde wider. Viele Opfer des Riesengebirges wurden auf dem Bergfriedhof Wang begraben, ab Anfang des 20. Jahrhunderts auch Bergtouristen, die auf Wanderungen verunglückt waren. Aber auch die widrigen Lebensumstände der Einheimischen werden noch in den Mitteilungen über das Begräbnis dieser Personen erkennbar. So heißt es zum Beispiel über die Beerdigung der Wirtin der Riesenbaude, Juliane Caroline Henriette Kober, die am 22. November 1884 gestorben war und am 28. November begraben wurde: „Der Transport der Leiche erfolgte nach sehr heftigem Sturm mit Schneetreiben durch 14 Mann in einer mit einer Decke übernagelten Bettstelle, deren Füße man abgesägt hatte, unter großer Anstrengung und Gefahr von der Riesenbaude aus über das „Gehänge“ an den als Wegweiser dienenden Telegraphenstangen entlang ins „Waldhaus“, wo die Verstorbene wiederholt sich aufgehalten hatte als Verwandte des früheren Pächters Negro, der jetzt in Nordamerika weilt. Vom „Waldhaus“ aus, wo erst die Einsegnung erfolgte, wurde die Leiche von 6-8 Mann per Schlitten heraufgezogen, da das Tragen der Bahre wegen der hohen Schneewehen unmöglich war. Von einer Präsentation war Abstand genommen worden, da auch das Gefolge sehr klein war (aus Brückenberg niemand).“
Ende des 19. Jahrhunderts hielt der Fremdenverkehr auch in den Orten unterhalb der Schneekoppe Einzug. Immer mehr Menschen verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem aufkommenden Tourismus. Das ist deutlich abzulesen an den sich wandelnden Berufen der Verstorbenen: Waren es anfangs neben den wenigen Baudenbesitzern hauptsächlich Häusler und Bauern, so finden sich nun Logierhausbesitzer, Hoteliers, Gasthausbesitzer u. a. unter den hier Begrabenen.
Doch auch auf andere Weise bedeutete der verstärkte Fremdenverkehr ins Riesengebirge eine Veränderung: Die Kirche Wang wurde zum vielbesuchten Touristenziel, und mit ihr der sie umgebende Bergfriedhof. Neben der einzigartigen nordischen Architektur war es die Lage der Kirche mit dem weiten Blick über die Riesengebirgslandschaft, die die Menschen begeisterte. Und wo man sich zu Lebzeiten gern aufgehalten hatte, wollte man auch begraben sein. So kam es zu immer mehr Begräbnissen von Menschen, die ursprünglich nicht im Riesengebirge beheimatet waren. Manche hatten ihren Lebensabend im Riesengebirge verbracht, andere baten schon zu Lebzeiten um ein Begräbnis an der Kirche Wang.
Auf dem Bergfriedhof der Kirche Wang fanden die Besitzer der Schlingelbaude, der Brotbaude, der Pächter der Kleinen Teichbaude, die schon erwähnte Besitzerin der Riesenbaude und andere ihre letzte Ruhestätte.
Drei Pastoren der Kirche Wang wurden auf dem Friedhof begraben: 1894 der Pfarrverweser Otto Frank, der bezeichnenderweise an Lungenschwäche verstarb (ein Jahr später starb seine einzige Tochter ebenfalls an Lungenschwäche – das raue Bergklima forderte seine Opfer).
1919 starb der langjährige Pfarrer der Kirche Wang, Erich Gebhardt, ein Mann, der sich in besonderer Weise um das Bergkirchlein verdient gemacht hat: Von 1892 bis 1919 hier Pfarrer, veröffentlichte er mehrere Schriften über die Kirche Wang. Vor allem aber verhinderte er, zusammen mit dem Vorsitzenden des Riesengebirgsvereins Seydel aus Hirschberg 1904 eine weitere Umbauung der Kirche Wang durch Hotels und Logierhäuser, wie sie seit der Errichtung des Hotels Wang 1897 an der Ostseite des Kirchplatzes drohte: Kirchengemeinde und Riesengebirgsverein kauften kurzerhand das weitere in Frage kommende Gelände östlich der Kirche.
Wenige Meter vom Grab Gebhards entfernt befindet sich das Grab des letzten deutschen Pfarrers der Gemeinde Wang, Ernst Passauer. Passauer war seit 1930 Pfarrer in Wang und führte die Gemeinde durch die schweren Jahre des Nationalsozialismus und des Krieges. Kurz vor Beginn der Aussiedlung der deutschen Bewohner des Riesengebirges wurde er im Juni 1946 bei einem nächtlichen Raubüberfall auf das Pfarrhaus erschossen.
Passauers Aufzeichnungen in den Kirchenbüchern der Gemeinde Wang vermitteln noch heute einen Eindruck von der veränderten politischen Situation nach 1933, insbesondere im Kriege. Das Riesengebirge blieb zwar zunächst von unmittelbaren Kriegseinwirkungen verschont und diente, wie auch das übrige Schlesien, als vermeintlich sicherer Zufluchtsort für Bombenflüchtlinge aus den verschiedensten deutschen Großstädten, überwiegend aus Berlin. Aber schon die wachsende Zahl von Gefallenen betrafen auch die scheinbar so friedlich gelegene Gemeinde Wang unmittelbar. Hinzu kam ein zunehmend spannungsvolleres Verhältnis von Staat und Kirche. In Passauers Notizen im Beerdigungsbuch spiegelt sich davon einiges wider: Die Beerdigung des langjährigen Bürgermeisters Hermann Breiter im Februar 1942 erfolgte noch unter selbstverständlicher Beteiligung aller Verbände „mit Musik und Fahnen, Landrat etc.“ an dieser kirchlichen Feier. Ein Jahr später kam es zu Auseinandersetzungen, als es sich der NSDAP-Vertreter in Krummhübel verbat, hinter dem christlichen Kreuz zum Bergfriedhof hinaufzuziehen: Passauer schildert, wie bei der Beerdigung des Besitzers vom „Cafe Wien“ bei der Aufbahrung ein blinder Klavierspieler „seinem verstorbenen Arbeitgeber auf dem Flügel Abschiedsweisen, Trauermärsche, aber auch das Riesengebirgslied, das Lied vom guten Kameraden u.a.“ spielte. Schließlich geleitete „Cantor Urban (…) den Conduct mit dem Krummhübeler Kinderchor vom Trauerhause zur Gruft, mußte aber, ebenso wie unser Kreuzträger, auf Veranlassung des stellvertretenden Ortsgruppenleiters der Partei, Schulz-Krummhübel, hinter dem Kriegerverein und dem Amtswalter der Partei vor dem Sarge gehen!“ Auch wenn das nur eine Randnotiz ist, so wird doch deutlich, dass die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen nazistischem Staat und christlicher Kirche auch vor dem Riesengebirge nicht Halt machten.
Freilich scheinen örtliche Parteiführer in solchen Dingen oft übereifrig gewesen zu sein, da auf der anderen Seite Vertreter staatlicher Behörden wie des im Krieg teilweise nach Brückenberg verlegten Auswärtigen Amtes offenbar weniger Probleme mit der kirchlichen Beisetzung ihrer Mitarbeiter hatten. So berichtet Passauer, dass im Januar 1944 der Amtsrat im Auswärtigen Amt, Friedrich Metz, Brückenberg Berghotel Thiele „auf Wunsch des (…) Auswärtigen Amtes hierselbst kirchlich beerdigt“ wurde, und zwar „unter Teilnahme einer größeren Anzahl von Diplomaten, Beamten und Angestellten des Auswärtigen Amtes.“
Ein Jahr später erreichte der Krieg unmittelbar auch die Orte unterhalb der Schneekoppe. Im März 1945 wurden zwei bei einem Tieffliegerangriff getötete Frauen aus Brückenberg auf dem Bergfriedhof beerdigt. Nach Kriegsende kamen die Typhustoten hinzu. Auch Flüchtlinge aus Hirschberg und Bad Warmbrunn wurden hier beerdigt.
Geradezu symbolisch ist die Aufschrift auf dem Grabstein von Hermann Breiter: „Hier ruhen, in Frieden vereint“. Es folgt dann aber nur der Name des 1942 verstorbenen Mannes. Seine Frau fand ihr Grab nicht mehr in der Heimat. Mit der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung im Sommer 1946 endet die deutsche Geschichte der Kirche Wang.
Schon 1946 bildete sich eine kleine polnische evangelische Gemeinde, die die Kirche Wang bis heute nutzt und erhält. Diese Gemeinde begrub ihre Toten aber nicht mehr auf dem Bergfriedhof, sondern auf den Kommunalfriedhöfen. Lediglich 1949 fand mit der Beisetzung des Komponisten Rudolf Jonas noch einmal eine Beerdigung auf dem Bergfriedhof statt.
In den folgenden Jahren wurde der Friedhof nicht mehr genutzt. Er blieb zunächst sich selbst überlassen. Eine Gefährdung erwuchs dem Friedhof Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, als die damaligen kommunistischen polnischen Behörden versuchten, alle Spuren der deutschen Vergangenheit des Landes zu beseitigen. Die meisten deutschen Friedhöfe in West- und Nordpolen wurden daraufhin eingeebnet. Auch auf dem Bergfriedhof Wang wurden einige Grabsteine abgeräumt, zerstört oder gestohlen. Dank der Bemühungen der polnischen Pfarrer der Kirche Wang konnte aber der Friedhof vor einer völligen Zerstörung bewahrt werden. Seit einigen Jahren bemüht man sich nun um eine Rekonstruktion des Friedhofs: Auf Kosten der Pfarrgemeinde Wang werden die Grabsteine nach und nach wieder aufgerichtet und gereinigt sowie die Inschriften erneuert. Als man bei Aufräumarbeiten in einer Garage alte Grabsteine des Bergfriedhofs fand, wurden sie, soweit noch bekannt, wieder an ihrem alten Platz aufgestellt. Die übrigen Steine fanden einen neuen Platz in einer „Gedächtnisallee“ auf dem Nordteil des Friedhofs, wo sie symbolisch für all die Gräber stehen, die heute nicht mehr existieren. Die polnische evangelische Gemeinde stellt sich der deutschen Vergangenheit der Region und leistet ihren Beitrag für die Bewahrung des schlesischen kulturellen und kirchlichen Erbes.
Seit dem Jahre 2001 gibt es auch wieder Bestattungen an der Kirche Wang: Gemeindemitglieder können ein Urnenbegräbnis erhalten. Im September 2001 wurde Henryk Tomaszewski, der Begründer des in Polen sehr bekannten Breslauer Pantomimentheaters, auf dem Bergfriedhof beigesetzt.
In den anderthalb Jahrhunderten seines Bestehens war der kleine Bergfriedhof Zeuge der wechselnden Zeitläufte. Nur noch wenig mag den Gemeindefriedhof der Gebirgsgemeinde Wang mit dem Bergfriedhof von heute verbinden: Berichte von langen Trauerzügen von den Häusern im Tal herauf zum Bergfriedhof, häufig mit Musik, Fahnen und Vereinen wirken wie Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit.
Heute ist die Kirche Wang Jahr für Jahr Hauptanziehungspunkt für Tausende Touristen des Riesengebirges aus dem In- und Ausland. Sie besuchen oft auch den kleinen Bergfriedhof. Die einzigartige Lage hoch oberhalb des Hirschberger Talkessels, auf halbem Wege zur Schneekoppe, haben Besucher immer wieder fasziniert. Friedhof und Kirche gleichen einem Refugium, das zu jeder Jahreszeit einen Besuch wert ist.
Pfr. Christoph Hanke, Pfr. Edwin Pech
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